DER SICHERHEITSDIENST

WIRTSCHAFT UND POLITIK 42 DSD 4 | 2023 21. November 2021 in dem „Spiegel”-Interview. Ob sich daraus eine militante, terroristische „Untergrundbewegung“ entwickle, habe„die Gesellschaft in der Hand“, erklärte Müller.6 Der Präsident des Bundesverfassungsschutzes, Thomas Haldenwang, bewertete die Gruppierung „Letzte Generation“ Mitte November 2022 nicht als Fall von Extremismus für eine Beobachtung durch seine Verfassungsschutzbehörde:„Ich erkenne jedenfalls gegenwärtig nicht, dass sich diese Gruppierung gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung richtet, und insofern ist das kein Beobachtungsobjekt für den Verfassungsschutz“, erklärte Haldenwang.7 Die Aktivisten begingen Straftaten, sagte er unter Verweis auf Straßenblockaden und Angriffe auf Kunstwerke. „Aber das Begehen von Straftaten macht diese Gruppierung jetzt nicht extremistisch.“8 Weiter erläuterte Haldenwang, Extremismus sei, wenn der Staat, die Gesellschaft, die freiheitlich demokratische Grundordnung infrage gestellt werde – „und genau das tun die Leute ja eigentlich nicht“. Der BfV-Präsident verwies darauf, dass die Klimaaktivisten der„Letzten Generation“ ein Handeln der Regierung forderten. „Also anders kann man eigentlich gar nicht ausdrücken, wie sehr man dieses System eigentlich respektiert, wenn man eben die Funktionsträger zum Handeln auffordert.“9 Der Präsident des thüringischen Verfassungsschutzes, Stephan Kramer, bewertete die „Letzte Generation“ Anfang Dezember 2022 als „für sich genommen noch keine extremistische Organisation“, warnte jedoch vor einer Vereinnahmung der Klimaschutzbewegung durch Linksextremisten. Nach Angaben von Kramer versuchten Linksextremisten seit einigen Monaten, die Organisationen „Fridays for Future“ und „Letzte Generation“ zu unterwandern:„Das könnte zu einer Eskalation der Proteste über das hinaus führen, was wir bisher erlebt haben. Das müssen wir, wo wir es erkennen, frühzeitig unterbrechen.“10 Der Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Herbert Reul (CDU), warnte Anfang Dezember 2022 ebenfalls: „Da ist etwas im Gang, was gefährlich werden kann.“ Dabei könne der Staat nicht einfach zuschauen. Bei dem von der Innenministerkonferenz beauftragten Lagebild gehe es um zwei Dinge: Zum einen müsse geprüft 6 vgl. ebd. 7 https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/haldenwang-stuft-letzte-generation-als-nicht-extremistisch-ein-18467352.html (13.10.2023) 8 Ebd. 9 Ebd. 10 vgl. https://www.faz.net/aktuell/politik10/inland/letzte-generation-thueringer-verfassungsschuetzer-warnt-vor-unterwanderung-durch-linksextreme-18507684.html?GEPC=s5 (13.10.2023) 11 https://www.welt.de/politik/deutschland/article242485167/Herbert-Reul-Letzte-Generation-genau-beobachten.html?cid=socialmedia. email.sharebutton (13.10.2023) 12 https://www.nzz.ch/international/klimaaktivisten-mit-neuer-strategie-und-millionenspenden-ld.1711046 (13.10.2023) 13 Ebd. werden, wie organisiert und geplant die Aktionen vonstattengingen, sagte Reul und formulierte als Frage: „Ist es der Versuch von Nötigung oder ist es einfach nur eine politische Willensbildung?“ Außerdem müsse geklärt werden, wie viele Angehörige der Klimaschutzbewegung zum Ziel hätten, das politische System zu überwinden.„Nicht alle, aber einige“ der Protestierenden seien aus dem linksextremistischen Raum bekannt, erklärte Reul. Der Staat müsse die Situation „sorgfältig prüfen, dann aber eine klare Ansage machen“, sagte der Innenminister von Nordrhein-Westfalen.11 Die Juristin und Soziologin Lena Herbers, die an der Universität Freiburg zu zivilem Ungehorsam forscht, analysiert die aktuellen Aktionen der Organisationen „Letzte Generation“ nicht als Zeichen einer Radikalisierung. Theoretisch könnten sogar noch radikalere Protestformen, als sie die Klimaaktivisten derzeit praktizieren, als legitim eingeordnet werden, erklärt Herbers: In der Sozialphilosophie gelte ziviler Ungehorsam seit Längerem als ein Element der Demokratie, das auf Missstände oder akute Krisen hinweise. Die Systemkritik der Aktivisten richte sich lediglich gegen das Wirtschaftssystem: „Es geht also gerade nicht um das politische System und damit nicht um Umsturz oder Revolution“, erklärt Herbers.12 Eine diametral andere Auffassung vertritt der Rechtsanwalt und Journalist Butz Peters, der sich wissenschaftlich mit der linksterroristischen RAF befasst hat. In den radikalen Protesten komme eine Ablehnung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zum Ausdruck. „Die Aktivisten meinen, sich nicht mehr an die Regeln der parlamentarischen Demokratie halten zu können, sondern durch eigene Gewalttätigkeiten die Ziele, die sie selbst für richtig erachten, durchsetzen zu müssen. […] Wenn man eine so sensitive Infrastruktur wie jene in Berlin lahmlegt, dann nimmt man solche Gefährdungen bewusst in Kauf.“13 Bemerkenswert fand Peters die Aussage eines Aktivisten, der sich von Geldbußen oder Gefängnisstrafen nicht beeindruckt zeigte und sagte, nichts davon könne ihn von weiteren Blockaden abhalten. „Ähnlich wie die RAF“, schätzt Peters ein, „akzeptieren die Klimaaktivisten den Rechtsstaat und unser gesamtes System nicht

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